Märchenhaftes Dungeons & Dragons – oder D&D trifft auf Michael Ende.
Am 24. Februar 2023 erschien «Die Wildnis jenseits des Hexenlichts», also die deutsche Fassung von The Wild beyond the Witchlight. Ein skurriler, etwas anderer Abenteuerband von Dungeons & Dragons.
«The Wild beyond the Witchlight» ist eine klingende Wortzusammenstellung, die wohl jedem D&D spielenden Menschen ein Begriff ist. Das ist wie ein Nursery Rhyme oder als ob man jemanden fragen würde, ob sie schon mal von «Schuster bleib bei deinen Leisten» gehört habe. Es ist ein fester Ausdruck, hat diese Melodie, diesen Rhythmus, diesen Klang, es ist ein gelungener Titel.
Jahrmarkt, Kirmes, Karneval
Die Wildnis jenseits des Hexenlichts ist die deutsche Entsprechung davon, weil es dieses Feywild-Abenteuer von Wizards of the Coast jetzt auch auf Deutsch gibt. Hab ich schon gesagt. Das Cover ist ansprechend, wie irgendwie immer bei D&D. Doch das kühle Petrolblau des Nachthimmels mit dem feurig gelbwarmen Licht aus dem Zirkuszelt von DWjdH hat es mir besonders angetan.
Das Cover hat dieses verschlagene Jahrmarktgefühl, das ich mag. Ich mochte die Schausteller-Episoden in The Witcher 3 und den Einstieg ins Warhammer Fantasy Einsteigerset. Nun ein Abenteuer von D&D in deutscher Sprache dazu zu haben, finde ich dufte.
Den Karneval einzubauen war die Idee von D&D-Abenteuer-Architekt Chris Perkins, der sich vom Dark-Fantasy-Roman «Something Wicked this Way Comes» inspirieren liess. Karneval, bunt, schräg und märchenhaft, aber auch ein bisschen creepy passt natürlich wie die Faust aufs Auge zum Feywild. «Die Wildnis jenseits des Hexenlichts» ist übrigens das erste Dungeons & Dragons Abenteuer der fünften Edition, welches im Feywild spielt.
Das Feywild
Feywild ist ein Ort unvorstellbarer natürlicher Schönheit. Der Ort, aus dem die ersten Elfen entsprangen. Das Feywild ist ein magischer und sagenhafter Ort. Feywild ist die Märchenwelt von D&D, wo es Satyre, Feengeister, Flimmerhunde, Zentauren und Harengons gibt. Und trotzdem, oder gerade, weil es so magisch ist, ist das Feywild gleichzeitig ein gruseliger und unglaublich gefährlicher, um nicht zu sagen tödlicher Ort. Er überlappt und spiegelt die materielle Ebene, folgt eigenen Regeln und ist schwer zu verstehen. Ein bisschen wie das «Upside-down» in Stranger Things. Nur hübscher.
Materielle Ebene und Feywild sind durch Portale verbunden, da wo sich die Ebenen berühren: ein Torbogen, ein Waldsee oder ein Steinkreis. Die Spiegelung der materiellen Ebene im Feywild entspricht dieser, nur ist sie eben noch fantastischer.
Wer sich vor dem Kauf des Abenteuers etwas mehr Inspiration zum Feywild holen möchte, findet eine komprimierte Beschreibung ab Seite 49 des deutschsprachigen Spielleiterhandbuchs.
Fast ganz ohne Kampf
Charaktere werden von Level 1 bis 8 durch die Wildnis jenseits des Hexenlichts geführt. Für alle Begegnungen sind auch friedfertige Lösungen vorgesehen, wer nicht kämpfen will, kann die Miniaturen stecken lassen. Wer Kämpfe und Taktik und Waffeneinsatz braucht, um glücklich zu werden, kann das tun, zumindest muss für die Lösung der Abenteuer aber niemand draufgehen.
Ich mag Rollenspiele, die nicht auf Gemetzel aus sind. Systeme wie Tails of Equestria oder Tales from the Loop, die bewusst auf Gewaltlösungen verzichten. Kampf ist natürlich schon spannend, auch für mich, wenn es taktisches Gewürfel ist. Aber mehr so abstrakt, wie in 90er Jahre PC-Spielen, als echtwelt-blutig.
Was wird geboten?
Zwei noch nie in einem Abenteuer dagewesene Völker sind enthalten. Das Volk der Feen und das Volk der Harengon, welche humanoide Hasen darstellen und ein wenig albern sind, aber wundervoll in diese mystische Welt hineinpassen.
Die Wildnis jenseits des Hexenlichts bietet das Gefühl von Peter Pan, Alice im Wunderland oder dem Zauberer von Oz, nur eben mit Drizzt, anstelle von Peter, Alice und Dorothy. Die Zeit läuft im Feywild anders und nicht jede Rückkehrerin erinnert sich an das, was sie gerade im Feywild erlebt hat.
Das Ding aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen war denn auch eine Meisterleistung. Rätsel und Gedichte in Sinn, Gefühl und Form gekonnt zu übersetzten, benötigt viel Arbeit, Erfahrung und Sprachgefühl. Das ist in der deutschen Übersetzung, zumindest an den Stellen, die ich mir angesehen habe, gut gelungen. So sind die Vetteln-Reiche «Hüben», «Drüben» und «Anderswo» für mich Sprachfetischisten so wunderschöne Begriffe, dass man sie kaum besser hätte wählen können.
«Die Wildnis jenseits des Hexenlichts» hat eine ähnliche Architektur, wie «Icewind Dale: Rime of the Frostmaiden». Das Abenteuer, in das ich mich seit der Empfehlung durch Mhaire Stritter etwas verguckt habe. Die Spielleitung wählt einen von zwei Einstiegsaufhängern, um dann in die Sandbox überzuleiten, wo die Spielendencharaktere frei umherziehen können, um schliesslich ins grosse Finale zu driften.
Für wen ist Die Wildnis jenseits des Hexenlichts?
Eine abenteuerliche (aber nicht so abwegige) Theorie besagt, dass «Die Wildnis jenseits des Hexenlichts» auf die neue Zielgruppe von D&D-Spielenden abzielt. Denen geht es nämlich nicht nur um Kloppen und Looten, sondern um smarte Konversation, ausgespielte Szenen und tiefgründige Begegnungen. Das soll nicht heissen, das Oldschooler das alles nicht mögen, aber ihr wisst schon… Dungeons.
Die Komplexität dieses Abenteuers ist ein zweischneidiges Schwert. Das meine ich ganz ohne Wertung. Es folgen sanfte Spoiler. Es ist einerseits bis ins Detail durchdacht und beschrieben. Keine Spielleitung kommt ins Stocken, weil ein Charakter plötzlich etwas Unvorhergesehenes versucht, wie den Jahrmarkt in der Luftblase über den Luftweg zu verlassen. Ich weiss, was das bedeutet. Ich habe mir für eine Homebrew-Kampagne einmal ein kleines Volksfest ausgedacht und es ist so gut wie unmöglich alles vorauszusehen, was die SC ausprobieren und testen wollen werden. Hier wurde von D&D dafür bestimmt hunderte Stunden recherchiert, durchdacht und wohl auch getestet.
Aber kommen wir zur anderen Schneide des Schwertes, denn die Menge an Informationen ist so dicht, dass es zuweilen fraglich ist, ob eine neue SL das Abenteuer so einfach leiten kann. Die Idee des Handlungsfadens, wo Entscheidungen, welche die SC treffen, festgehalten werden, ist so genial wie kompliziert. Natürlich muss nicht alles reibungslos dem Buch entsprechen, damit das Abenteuer funktionieren kann. Wenn da jedoch so viele tolle Details drinstehen, wäre es jammerschade die Hälfte davon wegzulassen.
Fazit
Die Wildnis jenseits des Hexenlichts hatte keine einfache Aufgabe, mich von sich zu überzeugen. Denn ich bin gerade so wahnsinnig Fan von «Icewind Dale: Rime of the Frostmaiden», welches ich gerade lese. Es ist so dicht, so voller Ideen und toller Ansätze: Ergiebig ist das richtige Wort.
Trotzdem, oder gerade deshalb, mag ich auch Die Wildnis jenseits des Hexenlichts. Es ist schrill und bunt, magisch düster, und hakt gleichzeitig all die Kästchen ab, die wir aus Märchengeschichten schon kennen. Es ist aufregend, obwohl es einmal nicht um Blut und Gekröse geht. Es (er)weckt die kindliche Neugier in uns. Und es ist vor allem eines, nämlich ein unaufhörliches Auf-die-Probe-stellen der Feywild-Gesetze.
Man sollte Jahrmarkt und Schräges und Märchenhaftes mögen, um Die Wildnis jenseits des Hexenlichts zu spielen. Es ist einzigartig in seiner Art und wohl der Inbegriff von Fairy Tale. Wer etwas Faszination für Phantastik jenseits von Drachen und Magie übrig hat, für den ist dieses skurrile Rollenspiel-Abenteuer ein Leckerbissen.
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