Wandern wie im Mittelalter

Wir gehen wandern. Nicht bergwandern, sondern so wie im Mittelalter. Von Stadt zu Stadt, durch das flache Land.

Schon als Zehnjähriger war ich fasziniert von der Vorstellung, durch unberührte Landschaften zu wandern. Einfach immer geradeaus. Durch Wälder und Auen, über Flüsse und Hügel. Mit nichts als einem Rucksack auf dem Rücken, der einem zu jeder Zeit Proviant und Unterkunft bereithält.

Wandern im Mittelalter

Im Mittelalter sind vor allem Adelige gereist. Aber auch einfache Leute sind im frühen Mittelalter gereist. Entweder, weil sie enorm Wichtiges zu tun hatten. Oder aber, so mutmassen manche, weil sie so eine Art Urlaub machten. Sie pilgerten in eine grosse Stadt und bewunderten die dortige Kathedrale, so wie wir das heute noch tun.

Viele Menschen im späten Mittelalter kamen Zeit ihres Lebens nicht aus ihrem Dorf heraus. Sie kannten die Umgebung, vielleicht das Nachbarsdorf. Doch einige gingen auf Wanderschaft. Sie wanderten auf dünnen Ledersohlen auf matschigen Wegen und stopften sich Stroh als Sohle in die Schuhe, um nicht Trench-Foot oder eine Lungenentzündung zu bekommen.

Die Ausrüstung war spartanisch damals. Die Kleidung war nicht aus Plastik und somit nicht dicht. Die Schuhe hatten keine griffigen, dicken Sohlen. Und die übrige Ausrüstung war nicht ultraleicht, sondern aus Holz, Leinen und Metall. Die Nahrung war nicht gefriergetrocknet und durch Lebensmitteltechnik mit Vitaminen, Mineralien und Ballaststoffen angereichert.

Wandern wie im Mittelalter

Was ich heute tue, ist also im besten Falle die Weichspülversion vom Wandern im Mittelalter. Dennoch sind zwanzig oder fünfundzwanzig Kilometer am Tag anstrengend, für mich untrainierten Menschen. Es wurden auch schon einmal fünfzig Kilometer an einem Tag, wobei ich da auch die beiden Seen dazuzähle, die ich mit dem Schlauchboot überquerte. Danach war die Wanderung glücklicherweise zu Ende. Denn auch ich war am Ende.

Und auch wenn wir heute besser ausgerüstet sind und komfortabler wandern, als im Mittelalter, schleppe ich trotzdem jedes Mal zwischen fünfzehn und zwanzig Kilogramm mit mir herum. Ich will schliesslich ausgerüstet sein: Für den Fall, dass ich friere, dass es regnet, dass die Sonne brennt, dass ich mich verletze und dass ich Durst oder Hunger kriege.

Das Tolle am Wandern

Was mir daran gefällt, ist die Tatsache, dass ich mich ohne fremde Hilfe bewege. Ich benutze kein Flugzeug, kein Schiff, keinen Zug, kein Auto, ja noch nicht einmal ein Fahrrad. Ich trage mit mir, was ich benötige. Ich lebe aus dem Rucksack. Trage meine Schlafstatt und mein Regendach mit mir herum, wie eine Schnecke. Ich bin für alle Eventualitäten gerüstet. Das ist es, was mich glücklich macht.

Dabei habe ich so viel wie nötig und so wenig wie möglich dabei. Diese Balance habe ich mittlerweile gut im Griff. Die Route wird so flach gewählt, wie es geht. Schliesslich macht es keinen Sinn, Höhenmeter zu erkämpfen und Kalorien zu verbrauchen, wenn es nicht sein muss.

Und was mir noch viel mehr gefällt, ist die Tatsache, dass man kaum vorankommt. Wenn ich mit dem Auto reise, sehe ich viel in kurzer Zeit. Doch mein Blick ist auf die Strasse gerichtet und alles rauscht vorbei. Selbst mit dem Fahrrad bin ich auf die Strasse und den Verkehr konzentriert. Ich sehe Dinge, aber nicht in der Vergrösserung, wie wenn ich zu Fuss unterwegs bin.

Wenn ich wandere, dann gehe ich in mich. Ich denke nach. Über mich und die anderen. Mich und die Welt. Ich sehe Pflanzen, Tiere und Menschen. Ich sehe Merkwürdigkeiten und Sehenswürdigkeiten. Im wahrsten Sinne des Wortes: Dinge, die würdig sind, gesehen zu werden. Das gerahmte Bild von General Guisan an einer Ladentür, das in pinker Farbe gesprayte Wort «bleibt!» an einem Baum oder die Ruhe und Stille an einem wunderschönen Wegabschnitt, der nach Tannennadeln duftet und den sonst nur der ansässige Bauer kennt.

Wandern wie im Rollenspiel

Während mittelalterlichen Wanderungen schloss man sich mit anderen Pilgern zusammen. Es wurde gemeinsam gewandert, gelagert und getrunken. Es wurde gelacht und gestritten. Doch es war geselliger, unterhaltsamer und weniger gefährlich, in einer Gruppe zu reisen. Dabei waren es die besonders herausstechenden Charaktere, von denen anschliessend berichtet und gesungen wurde. Vom Mönch, dem Sänger, dem Riesen und dem Fährtenleser.

Viele Tage waren sie so unterwegs. Und obwohl die Strassen, zum Beispiel im alten England, relativ sicher waren, gab es dort ab und an doch Banditen und wilde Tiere in den Wäldern.

Eine solche Reise war denn auch ein Abenteuer, wie in heutigen Fantasy-Geschichten. Man erlebte etwas, verglichen mit den täglich wiederkehrenden Tätigkeiten im Dorf und auf dem Hof. Nach einer Pilgerreise hat man viel gesehen und erlebt. Das sind nicht die Heldengeschichten, wie sie im Kino erzählt und am Rollenspieltisch gespielt werden. Doch wahrscheinlich sind sie der Ursprung dieser Sehnsucht des abenteuerlichen Wanderns. Und gerade in der heutigen Zeit, wo alles sicher, abgesichert und versichert ist, tut ein Hauch kontrollierten Abenteuers so gut. Ziehet aus – es gibt viel zu sehen!

Ich möchte erfahren, wenn es neue Artikel gibt!

6 Kommentare

  1. Ein stimmungsvoller und origineller Artikel! Mittelalterlichem und generell vormodernem Empfinden nachzuspüren, indem man selbst mal größere Wanderungen unternimmt wie die Vorfahren, halte ich für eine prima Idee. Eine Übertragung der Eindrücke auf das Tisch-Rollenspiel steht und fällt natürlich mit dem jeweiligen Erlebnisschatz der Mitspieler. Daher wäre es vielleicht eine gute Weiterführung der Idee, ab und an mit der gesamten Spielgruppe solche Wander-Exkursionen zu machen, um dabei den gemeinsamen Erfahrungshorizont zu bereichern. 🙂

    1. Vielen Dank, Jan. Da alle mitzunehmen, ist eine gute Idee. Leider sind anstrengende Echt-Leben-Wanderungen mit Survival-Touch nicht jederfraus und jedermanns Sache.

    1. 25 Kilometer am Tag, 15 Kilo Gepäck. Dschungel-Hängematte, Iso-Matte, Schlafsack, Mini-Kocher, Ersatzkleidung, Nahrung, Powerbank, Regenjacke, Licht und genug Wasser. 15 Kilo hast du sofort, auch wenn nur das Nötigste mitkommt. Leider.

  2. Hey, das ist ja eine tolle Seite! Ich bin auch mittelalteraffin und möchte ab Herbst so billig und einfach wie möglich einfach loswandern. Nur, alleine macht das eigentlich keinen Spaß und ist „damals“ ja auch nicht ratsam gewesen. Vielleicht findet sich hier jemand, der Zeit und Interesse für so etwas hat. Ich wollte eigentlich den E1 zumindest teilweise abwandern, aber ich klebe nicht an der Strecke. Bin weiblicher Bestager, falls das von Interesse wäre…

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