Rollenspiel-Rant

Ich mag den «modernen Ansatz» nicht

Ich sehe immer wieder die Lobpreisung und Vergötterung von Spielerfreiheit, Sandbox und Selbstverwirklichung. Jede Form von Einschränkung gilt als schlechtes Rollenspiel, das keinen Spass machen kann. I agree to disagree.

Woher kommt eigentlich die Idee, dass es nur gutes und modernes Rollenspiel ist, wenn die Spielenden machen können, wozu sie gerade Lust haben? Darum geht es im Rollenspiel doch gar nicht. Kommt es vielleicht daher, dass man einmal deklariert hat, der grösste Vorteil des Rollenspiels gegenüber PC-Spielen sei, dass man alles tun könne, was man will? Dass es deshalb keine programmierten Einschränkungen geben darf? Oder kommt es daher, dass jede Generation von Menschen sich, noch mehr als die vorangegangenen, wünscht, dass die Welt sich nur um sie allein dreht?

Alles, was ich hier schreibe, meine ich übrigens nicht nur aus der Sicht der Spielleitung, die ich meistens bin; auch als Spieler, empfinde ich so. Ich persönlich will gute Geschichten erleben können und nicht mein Ego befriedigen.

  1. Ich will kein Player Empowerment
  2. Ich will keine Sandbox
  3. Ich will keine charaktergetriebene Improvisation

Wer ist hier der Ego?

Die Spielleitung wird dann als Egoistin angesehen, wenn sie einer Geschichte folgen will. Ein Rollenspiel ist kein Roman. Doch Romane sind deshalb so gut, weil sie eben eine gute Geschichte erzählen. Das Coole am Rollenspiel ist, dass du mittendrin sein kannst, statt nur dabei. Und nicht, dass sich alles um dich drehen muss und dir die Wünsche von den Augen abgelesen werden.

  1. Ich will keine Spieleregos befriedigen
  2. Ich will eine gute Story
  3. Ich will Plothooks

Destroy ideas, not stories

Und ja, ich finde es in Ordnung, wenn meine Spielenden die Story kaputtmachen. Damit musste ich umgehen lernen. Es muss möglich sein. Wenn sie auf einen Plot Hook keine Lust haben, dann ist das doof, aber okay. Dann geht alles den Bach runter und ich muss improvisieren. Das soll mich aber nicht davon abhalten, legendäre, vorgeschriebene Kampagnen zu spielen, die es seit den Achtzigern gibt oder grossartige Geschichten zu erzählen, die bereits für vier Editionen überarbeitet wurden.

Ich sehe es so: Die SL sollte zwar jederzeit bereit sein, die Handlung über Bord zu werfen, wenn die Spielenden keine Lust auf den Plothook haben. Warum sich jetzt aber alles nur noch um Player Empowerment und zufällige Improvisierte Szenen drehen soll, erschliesst sich mir nicht. Das sind selten gute Geschichten.

Random Shit

Ein „on the spot“ ausgedachtes Ereignis (auch „Random Shit“ genannt) kann doch unter keinen Umständen so gut sein, wie eine sorgfältig „gecraftete“ Dramaturgie? Ich sage nicht, dass RS nicht genauso viel Spass machen kann. Das ist Ansichts- und Geschmacksache. Wenn die Gruppe das lieber mag, ist das okay.

Aber wenn man einen Schritt heraus macht und sich das möglichst „objektiv“ anschaut, kann eine auf der Stelle improvisierte Story doch unmöglich eine gleich gute Geschichte ergeben, wie die mit viel Aufwand konstruierte. Auch Beschreibungen von zuvor ausgedachten Szenen mit der passenden Musik sind doch viel „perfekter“ als generische Beschreibungen, die entstehen, weil ich jetzt unter Druck grad was liefern muss und ein Standard-Audioteppich dazu.

Das Paradebeispiel ist der immerwährende Tavernenbetreiber, der zu jeder Tages- und Nachtzeit Gläser, Humpen oder Becher mit einem schmutzigen Lappen poliert.

Good fun is not a good story

Ihr könnt noch so gute Spielende und eine extrem erfahrene SL sein. Ihr dürft gerne Spass haben, wenn ihr RS aneinanderreiht und euch dabei kugeln vor Lachen, das ist voll okay. Das tun wir manchmal auch. Aber in den seltensten Fällen ist das dann eine gute Geschichte. Nichts, dass irgendjemand sich anschliessend im Kino ansehen wollte.

Improv ist lustig und kann auch richtig, richtig gut sein, es wird aber nie ein Bestseller oder Klassiker werden. Warum? Weil es nicht entstehen, reifen, verworfen werden, überarbeitet, gestaltet, geprobt und dargeboten werden konnte. Es ist einfach nur zufälliges Zeug, von dem ab und zu etwas davon genial ist. Aber eben nur ab und zu. Und auch nur, wenn das richtig gute Ausnahmetalente sind. Keine Ottonormalspieler wie du und ich.

Der Beweis? Hast du nicht auch schon erlebt, wie dir andere minutenlang von ihrem «genialen», spannenden und lustigen Rollenspielerlebnis erzählt haben und es für dich banal und ziemlich sinnlos klang? «Dann ist er einfach so durchs Fenster gekracht, statt die Tür zu nehmen und hat dabei auch noch gleich den Kerzenleuchter umgeworfen. Plötzlich brannte das ganze Schloss …» Klingt meistens wie ein mittelmässiger Mittelalter-Comedy-Streifen. Lustig im Augenblick des Passierens, belanglos für einen Plot.

Ich bin so gut

Oft leiden wir unter grosser Selbstüberschätzung. Ich meine auch, ein guter DM zu sein. Ich bin es unter objektiven Gesichtspunkten aber wahrscheinlich nicht. Man kann auch behaupten, dass Brennan Lee Mulligan und Matthew Mercer ihre Shows nicht scripten. Aber scripten heisst nicht, Text für die Spielenden im Voraus zu schreiben. Scripten bedeutet für mich, dass Brennan Lee Mulligan minutenlange Beschreibungen in einer Qualität vorträgt, dass man merkt, dass er sich das ganze halbstündige Intro im Vorfeld bereits ausgedacht, getextet und geübt hat. Und das erst macht es so gut. Hätte er keine Ahnung, welche Szene er überhaupt spielen wird, könnte er nur improvisieren. Auch das kann er bestimmt gut, aber es würden nie im Leben so monumentale Szenen daraus entstehen.

Vielleicht sind die meisten von uns dazu gar nicht fähig. Weil wir keine Schauspieler, keine Stimmenimitatoren, Drehbuchautoren und Texter sind. Aber deshalb einfach ein bisschen zu schauen, was gerade passieren wird, das können erst recht nur die Wenigsten. Das ist wie der Unterschied zwischen Improv und einem guten Film.

Dunning-Kruger-Effekt

Viele glauben, tolle SL zu sein, nur weil sie seit fünfunddreissig Jahren Rollenspiele leiten und spielen. Natürlich, Erfahrung hilft, Reife hilft, Weisheit wächst. Aber ich behaupte, dass die meisten von uns auch nach 100 Jahren Rollenspielerfahrung immer noch nicht gut wären. Wir glauben nur, wir seien es. So wie alle glauben, gute Autofahrer zu sei. Auch jene, die wir als schlechte Autofahrer bezeichnen, glauben gute zu sein. Weil das in unserem Naturell liegt.

Deshalb bedeuten Montagen, Rückblenden, Sandbox etc. noch lange keine gute Story, keine tolle Kampagne. Für die, die sie erleben und geniessen vielleicht schon. Und wenn es nur darum geht, dass genau diese Gruppe von Leuten Spass hat, dann gebe ich ihnen sogar recht. Ich bezweifle allerdings, dass diese Kampagne, von Profis bewertet, auch nur in der Nähe von gut wäre. Wahrscheinlich wäre sie näher bei grottig als bei exzellent. Und wenn es nur darum geht, dass diese eine Gruppe von Leuten richtig glücklich werden soll, mit dem, was sie tun. Dann sollten sie aufhören anderen zu sagen, sie dürften nicht railroaden, Fertigabenteuer spielen und Spielende bevormunden.

Ich mag Schienen, sie führen zum Ziel

Ich persönlich mag es, eine Aufgabe zu kriegen, die ich meistern soll. Also: Hier, nimm den Ring und zerstöre ihn, damit die Welt nicht untergeht! Das flasht mich mehr als: Was möchtest du tun? Hm… ich will ein Schiff kaufen und um die Weltmeere segeln. Das hat zwar keine Dringlichkeit, aber macht bestimmt Spass. Das Erstere sind Helden, die sich dem Schicksal fügen. Das Zweitere sind verwöhnte Protagonisten, die ihre eigenen Ziele verwirklichen wollen, weil das Leben sich ja schliesslich um Selbstverwirklichung dreht.

Natürlich ist Railroading, also den Spielenden gar keine Optionen zu lassen, Mist. Und natürlich ist das ewig zitierte «Eigentlich willst du nur deinen Roman spielen und brauchst Zuhörende» kein Rollenspiel. Wenn aber einer sagt: «Früher wollte ich nur Geschichten erzählen, deshalb war ich eine schlechte SL», dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Genau darum geht es doch: ums Geschichten erzählen! Um das Erleben von Geschichten! Es ist ein Storytelling-Spiel. Eines mit durchdachter Ausgangslage, Entscheidungsoptionen im Mittelteil und ungewissem Ausgang. Aber eines mit tollen Szenen, einprägsamen Charakteren, einer packenden Dramaturgie und möglichst wenig RS.

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Kommentare

2 Antworten zu „Ich mag den «modernen Ansatz» nicht“

  1. Avatar von Andreas (RPGnosis)

    Spannend, weil ist eigentlich nicht nur ein Ausschlag gegen modernes Erzählspiel, sondern auch gegen das Ur-traditionelle „emergent play“ von alten (oder altmodischen) Hexcrawls.
    Da könnte man jetzt sagen „du bist halt in den 90ern hängengeblieben“ oder aber alternativ du hast dir halt Ansprüche bewahrt, die die Alteingesessenen Ü40 und Ü50-Spieler aus Zeitgründen hinter sich lassen mussten und sich seitdem schönreden… 🙂

    1. Avatar von Murphy
      Murphy

      Danke, Andreas! Wenn ich deine Deutungen richtig verstehe, glaube ich, es ist von beiden ein bisschen. Also ja, in den 90ern hängengeblieben und Ansprüche bewahrt, weil in der Zwischenzeit nicht so viel gespielt und/oder geleitet.

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