Mutant: Year Zero kam im Dezember 2014 raus. Bisher habe ich es völlig zu Unrecht ignoriert. MYZ hat dieses dreckig-braune, löchrige Feeling. Mach dich bereit, zu überleben!
Erst der gerade erschienene Kampagnenband AD ASTRA hat mich auf den Geschmack gebracht. Denn wie ich dort bereits geschrieben habe, stehe ich nicht besonders auf Sci-Fi, Weltraumoper, Endzeit-Szenarien. Ich mag Star Wars und ich fand The Walking Dead eine Zeit lang unterhaltsam. Das wars.
Mutant: Year Zero ist ein Free-League-Produkt. Das heisst, es ist schön. Free-League-Rollenspiele sind das immer. Die Spielmechanik kenne ich nur von Tales from the Loop. Sie heisst Year Zero Engine und stammt von diesem Rollenspiel hier, Mutant: Year Zero.
Das ist der Ursprung. Und aus all diesen Gründen, will ich mir das Regelwerk und Setting von MYZ etwas genauer anschauen.
Die Welt geht unter
“Extreme climate change, global economic crisis, increasing conflict between old and new superpowers.” Ja, so ungefähr könnte der Weltuntergang eingeleitet werden. Und ja, so sieht die Weltlage momentan in ungefähr aus. Ohne den Teufel an die Wand zu malen, denn die Red Plague aus MYZ haben wir zum Glück ja noch nicht.
Nach dem Untergang ist vor dem Neuanfang. Wir schreiben das Jahr Null. Im ersten Teil wird sehr detailliert erklärt, was Roleplaying ist. Das ist gut. Veteranen finden das unnötig, Menschen, die aus Versehen ein Buch wie dieses in die Hände bekommen, werden durch genau diese Texte ins Hobby gesaugt. Wahnsinnige Illustrationen von Menschen mit Insektenflügeln, Samurai-Messern und Superheldenmasken tun ihr Übriges…
Mutationen
Was die Charaktere speziell macht, sind die Mutationen. Niemand weiss, woher sie kommen. Sie geben deinem Charakter Superkräfte. Diese Kräfte sind nicht immer abrufbar. Und sie sind gefährlich. Auch für deinen Charakter manchmal. Die Mutationen suchst du dir auch nicht aus, der Zufall wählt sie. Mutationen reichen von Säurespucke, über vier Arme bis hin zur Telekinese.
Charakterwahl
In Mutant: Year Zero heissen die Klassen Rollen. Schade heissen sie nicht Archetypen, wie bei Tales from the Loop. Da der Unterschlupf der Charaktere im Spiel DIE ARCHE heisst, wäre die Bezeichnung «Archetypen» gleich doppelt toll. Die Typen von der Arche können folgende Rollen haben:
- Der «Enforcer», der einen halben Autoreifen mit Nieten als Schulterpanzerung trägt, ist der Kämpfer-Archetyp
- «Gearhead» ist der Archetyp, der als Erfinder und Bastler alles Mögliche aus Schrott machen kann.
- Wer den «Stalker» spielt, entspricht einem Endzeit-Waldläufer.
- Den «Fixer» spielen Menschen, die gerne fragwürdige Deals machen. Der Name und das Bild des Archetypen dürften dazu führen, dass kaum jemand diesen Archetypen wählt.
- Der «Dog Handler» oder Hundeführer. Mehr gibt es hier nicht zu sagen.
- «Chronicler» ist der Chronist. Oder ein sehr kaputter Barde, der nicht singen mag, um das Fantasy-Trope zu bemühen.
- Der «Boss» ist unschwer erkennbar der Anführer und damit badass.
- Der «Grunt» ist so etwas wie ein aufrührerisches Arbeitstier.
Wenn ich mir die Archetypen so in der Übersicht ansehe, traue ich mir sogar mit meinem rudimentären psychologischen Wissen zu, genaustens sagen zu können, welche der Archetypen gerne gewählt werden und welche nie. Boss, Enforcer, Stalker, ja – Chronicler und Fixer, nein.
Mehr Dreck
Verglichen mit meiner ersten MYZ-Berührung, dem Kampagnenbuch Ad Astra, macht das Setting im Regelwerk einen viel gefährlicheren und verzweifelteren Eindruck. Das liegt selbstverständlich daran, dass Weltraumstationen und Raumschiffe stets einen sehr cleanen Eindruck machen, selbst wenn darin Aliens hausen und alles vor die Hunde geht. Eine zerstörte Welt, die in Trümmern liegt und in der nur marodierende Mörderhobos unterwegs sind, sieht dagegen immer tödlich und dreckig aus.
Die Würfelmechanik von Year Zero
Initiative wird mit einem W6 gewürfelt. Bei Gleichstand zählt der Agility-Wert. Immer noch Gleichstand? Dann folgt ein weiterer unmodifizierter W6-Wurf. Das W6-Pool-System addiert so viele Sechserwürfel wie erlaubt, jede sechs ist ein Erfolg.
Im System von Year Zero erleiden die Charaktere Zustände. Sie können dehydriert, unterkühlt, übernächtigt oder am Verhungern sein. Gestorben werden, kann natürlich auch.
Ums Überleben kämpfen
Im Kampf wird es hässlich. Weltuntergangsszenarien bedeuten immer was? Improvisierte Waffen. Nahkampf mit Messern, Flaschen und anderen hässlichen Dingen. Das will ich mir gar nicht so genau ausmalen und im Spiel auch nicht so genau beschreiben. Spätestens seit The Walking Dead gibt es da eine «Waffe» der Wahl. Na? Stranger Things gesehen? Genau. Die erste abgebildete Waffe im Kapitel «Combat» ist auch bei MYZ «Spiked Bat», der Baseballschläger mit den Nägeln im Kopf. Hässlich. Aber das ist noch nicht alles. Ich sag nur Flammenwerfer.
Die Arche
Die Basis der Charaktere ist «die Arche». Sich diese gemeinsam auszudenken, macht schon in der Vorstellung Lust auf das Spiel. Ist es ein Haus, ein Flugzeugwrack oder eine U-Bahnstation? Wo liegt «die Arche»? Wer führt die Bewohner der Arche an? Wie viele Mutanten leben dort? Und woher bekommen sie Wasser und Vorräte? Uuuh, so viele fantasievolle Möglichkeiten! Gibt es ein Sicherheitssystem? Generatoren? Eine Destillerie? Ja? Nein? Und wenn ja, warum nicht?
Tod und Verderben
Am Ende jeder Session wird eine Spielerin oder ein Spieler ausgesucht, die/der einen W6 würfeln muss. Die gewürfelte Anzahl Bewohner der Arche gehen drauf. Denn Fäulnis, Gewalt und Hunger fordern ihren Tribut.
Die Idee, dass man die Zone, in der gespielt wird, selbst bestimmt, ist unheimlich. Nimm deine Heimatstadt, mach sie kaputt, überlebe darin. Harter Tobak.
Die vorgeschlagenen Premissen lauten “Death is a part of life”, “feel the apocalypse” und “it can be funny, too”. Es gibt so viele tolle und einfache Plot Hooks und Adventure Seeds in diesem Buch, die ich hier nicht verrate. Es macht so viel Lust darauf, das Ding zu spielen.
Selbstverständlich geht es in einem Endzeitspiel auch um Ressourcen. Nahrungsmittel, Baumaterial, Munition… nichts wird mehr hergestellt, alles ist plötzlich Gold wert. Welche Läden gibt es, die geplündert werden können? Rangeleien darum, wer hier das Sagen hat, gehören an die Tagesordnung.
Monster & Gefahren
Die Monster, die im Regelwerk vorkommen sind grandios, vielfältig und einfallsreich. Die Gefahren, die auf einen warten sind deren viele. Der Wermutstropfen ist, dass die Monster nicht alle bebildert sind. Ich empfinde es immer als grossen Verlust, wenn aussergewöhnliche Monster beschrieben, aber nicht illustriert sind. Wie muss ich mir Air Jellies bitte schön vorstellen? Die finde ich in keinem Tierlexikon.
Einstiegsszenarien
Im Regelwerk enthalten sind fünf Szenarien/Schauplätze. Und ja, es sind eher Szenarien als Abenteuer. Es sind Areale, die erkundet und erforscht werden, keine Handlungsabläufe, denen gefolgt wird. Und schon hier beginnt, was das Kampagnenbuch Ad Astra fortführt… Grossartige 3D-Illustrationen von ganzen Anlagen und comic-mässige Stimmungsbilder sind hier zu finden. Ein Traum!
Allein die ganzen Abenteueransätze, die über das Regelwerk verstreut sind und besonders die fünf Szenarien im Buch reichen für viele, viele Stunden Rollenspiel. Da saugst du dir ohne viel Aufwand locker eine zwanzig Sessions umfassende Kampagne aus den Fingern. Vorausgesetzt, du bist mit dem Konzept «Rollenspiel» vertraut und hast schon andere Spiele geleitet. Aber das ist noch nicht alles…
The Path to Eden
«Der Pfad nach Eden» ist das eigentliche Einstiegsabenteuer. Ich will hier nicht spoilern, aber das Ding willst du einfach gespielt haben. Was ist geschehen? Woher kommen die Mutationen? Löse das Rätsel und entkomme in eine neue, bessere Zukunft. Und was passt hier besser als das post-apokalyptische Song-Zitat von R.E.M.? «It’s the end of the world as we know it. And I feel fine.”
Fazit
Ich staune immer wieder, wie dicht die Ideen und die Atmosphäre der Free-League-Rollenspiele verwoben werden. Es macht überhaupt keine Mühe in das Setting einzutauchen, das passiert wirklich von allein. Buch auf, ein Kopfsprung und weg bin ich.
Was ich nicht einschätzen kann, ist, wie oft das Spiel gespielt werden kann, bevor es seinen Reiz verliert. Denn, wie es mir bei The Walking Dead ergangen ist, bei der x-ten Staffel, wo mit zwischenmenschlichen Problemen und dem zweitausendsten Untoten gekämpft wird, ist der Abnützungseffekt Realität und die Luft langsam raus.
Mutant: Year Zero ist für mich eine dieser grossartigen Entdeckungen. Ich erwartete nichts und blieb mit offenem Mund komplett begeistert hängen. Das System ist toll, das Setting ist toll, Mutant: Year Zero ist toll. Die Welt kann untergehen.
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